Ihr kennt sie alle – ob ihr nun Depressionen habt oder euer Leben nur “ganz normal” nervt. Ihr kennt sie, die absolut sinnlosen und vor allem unerwünschten Tipps der anderen (am besten noch fast fremden) Leute. Hinter vielen stecken Vorurteile, hinter anderen einfach der Unglaube an die Krankheit. Hinter allen aber stehen gute Absichten.
Aber, wie ein Sprichwort sagt: der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Absichten.
Ich kann sie nicht mehr hören. Ich bekomme so starke Aggressionen, dass ich körperliche Schmerzen dabei habe, mich zurück zu halten, keinen Spruch (und natürlich noch viel weniger tatsächliche körperliche Angriffe) zu schicken.
Ich habe mal meine Top Ten zusammen gestellt.
1. Warum hast du Depressionen, es gibt doch so viel, was einen glücklich macht? Schau dir einfach mal das Schöne in deinem Leben an!
Ja, gute Frage. Also, Depressionen haben ja viele Gründe. Einer davon ist ja, dass Neurotransmitter in meinem Kopp mal so gar nicht machen, was sie sollen. Aber das wollt ihr gar nicht hören oder? Ihr wollt doch nur ein Gesicht, erhellt von Erkenntnis und ein jaaaaaaaaaaaa DAS stimmt. Na dann, bin ich mal glücklich!. So leicht ist es aber nicht. Warum hat ein Asthmatiker Asthma? Gibt doch genug Luft zum Atmen. Ich höre euch schon aufkeuchen- jetzt vergleicht die ihren Mini-Knacks mit einer ernsthaften Erkrankung. Wie kann sie nur! Ja wie kann ich nur? Asthma hat heutzutage ein -Gott sei Dank- Mortalitätsrisiko von 0,5-3 auf 100.000 Einwohner. An Depressionen erkrankte Frauen haben ein 1,7 fach erhöhtes Mortalitätsrisiko, bei Männern sind dies sogar 3,1. Dazu steigt das Risiko an Unfälle oder durch den Lebensstil hervorgerufenen Erkrankungen zu versterben. Depressionen sind nicht einfach nur “sich nicht so gut fühlen”- Depressionen sind eine ernst zunehmende Erkrankung. Viele Betroffene versterben tatsächlich an ihrer Krankheit- oft nach jahrelangem Leid. Also nein, es gibt sicher viele, viele Gründe, glücklich zu sein- aber die vertreiben nicht *zack* die Depressionen, sie verhindern nur Schlimmeres.
2. Also, der XY hat ja Sport geholfen, treibe doch mal Sport!
Zugegeben, derzeit bin ich eher faul und mache kaum (eigentlich nämlich keinen) Sport. Und ja- das tut mir nicht gut, es verschlimmert die Depression um ein Vielfaches. Aber es ist eine völlige Fehlannahme, dass Sport Depressionen “heilen” kann, dass sie verschwinden, wenn man “nur genug” Sport treibt. Das setzt Betroffene noch mehr unter Druck. Sie treiben Sport UND es geht ihnen schlecht? Dann ist es wohl zu wenig… Sport hilft, das Selbstwertgefühl aufzubauen, es baut Stress ab und sorgt für Ausgeglichenheit. Das ist alles sehr, sehr viel wert. Aber es heilt nicht- zumindest keine manifeste Depression, mit depressiven Verstimmungen mag das anders aussehen, schon möglich. Und ja, ich HABE Sport probiert. In einer Zeit, in der ich bis zu 50 km/Woche gelaufen bin, jeden Abend Yoga gemacht habe, zum Pilates ging… tut mir leid, aber das zu hören (in meinem Umfeld kam der Trick übrigens tendenziell von besonders beleibten Zeitgenossen, ironischerweise) ist ein Schlag ins Gesicht.
3. Du musst mal in die Sonne/an die frische Luft
Ich war an der frischen Luft. Ich war in der Sonne, ich war an der frischen Luft und es ging mir genauso schlecht, wenn nicht noch schlechter, als zuhause. Einfach weil frische Luft und/oder Sonne sicher gut tun- aber die Kraftreserve allein durch den Kraftakt “aufstehen” schon angegriffen war. Ich bin ja Frau der krassen Worte und einem Depressiven in einer Tiefphase zu sagen, er möge doch nur mal raus gehen ist wie einen Rollstuhlfahrer auf die Straße schubsen und zu sagen “lauf”. Natürlich gehen “wir” gern mit euch raus, lassen uns ablenken etc.- ich für meinen Teil fand das immer sehr angenehm- aber es ist auch ANSTRENGEND. Und manchmal (oft) ist da einfach keine Kraft für da.
4. Hast du mal was Homöopathisches probiert?
Die Antwort ist ja. In depressiven Verstimmungen bin ich großer Fan davon. Bei allem anderen nutzt das nichts! Im Gegenteil, man vertut wertvolle Zeit, die der Körper bräuchte, um sich auf eine “richtige” Medikation einzustellen. Akute Krisen können ganz plötzlich auftreten und sind absolut nicht zu unterschätzen. Also, ja. Die meisten von uns haben. Und den meisten hat das nur bedingt was gebracht.
5. Warst du schon mal beim Heilpraktiker?
Ja. Und beim Ostheopathen. Beim Homöopathen. Beim Anthroposophen. Bei der Akkupunktur. Beim Schamanen (kein Witz!). Bei Cranio-Sacraltherapie. Irisdiagnose. TCM. Ich habe in meinen über 10 Jahren Erkrankung schon einen Haufen Geld in alternative Heilmethoden gesteckt- um mal Zahlen zu nennen: wir sind bereits im 4-stelligen Bereich! Und es geht mir, wie es mir immer geht. So einfach ist das. Das einzige, was etwas gebracht hat ist dazu noch mit das günstige- ich lasse regelmäßig meinen Vitamin D Spiegel checken. Ich würde nackt mit Narrenkappe gackernd durch die Straßen tanzen, wenn es nur helfen würde. Tut es aber nicht.
6. Wieso das x.-te Medikament?
Weil die anderen nicht gewirkt haben. Und ich bin mir der Mischung, die ich vor der Schwangerschaft nahm bewusst. Bei Medikamenten ist es so: sie wirken- oder eben nicht. Manchmal setzt man totale Hoffnungen in ein Medikament und manchmal hilft diese Hoffnung auch, und es schlägt besser an. Und manchmal eben nicht. Ich musste mein geliebtes Lyrica, das erste Medikament, mit dem ich angstfrei! war absetzen, weil ich es eben nicht vertragen habe. Und manchmal nimmt man dann eben viele Medikamente in kurzem Abstand. Es ist nicht hilfreich, sich dafür noch rechtfertigen zu müssen. Man fühlt sich eh schon wie ein Versager, wenn DAS Medikament der Wahl nicht anschlägt.
7. Man muss ja auch glücklich sein wollen! (Alternativ: Ich glaube ja nicht an Depressionen…)
Ach so ist das. Ich WILL also gar nicht. Ahaaaaaaaaaaaaaa. Wisst ihr was? Ich will nichts mehr als glücklich sein- ich weiß nur nicht wie. Mein Gehirn produziert nicht genug Neurostransmitter. Es GEHT EINFACH NICHT. Ein Diabetiker braucht im schlimmsten Fall auch Insulin. Ja, man kann durch Psychotherapie sein Gehirn ein Stück weit umpolen. Und ja, oft ist der Mangel an Botenstoffen reversibel. Man lernt aber auch ganz klar, trotz Unglück glücklich zu sein. Und das ist ANSTRENGEND. Und je häufiger man depressive Phasen hatte, desto häufiger wird eine Depression chronisch. Bitte, tut das NIEMALS. Ein Mensch mit Depressionen hat eh schon Probleme mit sicher und seiner Umwelt und fühlt sich nicht selten schuldig an allem, was ihm geschieht. Zu hören, man wolle einfach nicht glücklich sein kann tatsächlich eine akute Krise auslösen (ohne den Teufel an Wand malen zu wollen- mit entsprechenden Folgen: Selbstverletzungen, Medikamenten- und Drogenmissbrauch, Suizid…). Ihr tut uns damit keinen Gefallen!
8. Jeder fühlt sich mal schlecht…
Ja, ganz genau. Die Betonung liegt auf “mal”. Menschen mit Depressionen geht es nicht “mal” schlecht- es geht ihnen “mal” gut. Depressionen sind ein andauernder Zustand. Man fühlt sich über Tage, Wochen und zeitweise Monate schlecht: traurig, schwermütig, müde, überfordert, aggressiv, schlaflos, antriebslos, wertlos… die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Depressionen sind NICHT normal und sie sind kein Zustand, mit dem man leben muss! Also, ja- jeder fühlt sich mal schlecht. Darum geht es aber bei Depressionen nicht!
9. Du musst unter Leute!
Ja, einer von 100 Tipps, die ich nicht annehmen KANN. Man fühlt sich in einer depressiven Phase oft schlicht nicht in der Lage, dass Haus zu verlassen. Die Antriebslosigkeit macht es einem nahezu unmöglich, irgendetwas von den tollen Tipps anzunehmen- weil man schlicht keine Kraft hat. Es geht also in einem richtigen Tief einfach nicht. Bitte akzeptiert das!
10. Du musst dich mal ablenken
Siehe Punkt 9.
Wunderbar beschrieben!!!!!!
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